Interview mit Steven Wilson - Rock Hard Nr. 190 (03/2003):
Interview mit Steven Wilson - Rock Hard Nr. 190 (03/2003)
SW-Interview (Porcupine Tree) - "Intelligenz wird wieder salonfähig"
»Meine alten CDs hören zu müssen, ist für mich
die reinste Folter.«
Steven Wilson schaut ausschließlich nach vorne
Sie klingen wie eine Mischung aus Pink Floyd, alten Genesis, neueren
Marillion und den Manic Street Preachers und stehen kurz davor, die
Welt zu erobern. Mit etwas Glück könnten PORCUPINE TREE zur
größten Rock-Sensation des Jahres 2003 werden.
Die ebenso merkwürdige wie außergewöhnliche Karriere
des Steven Wilson begann 1987, als der damals 20-jährige Londoner
die legendäre Seventies-Prog-Band PORCUPINE TREE erfand, diverse
fiktive Bandmitglieder ausarbeitete und im Alleingang tonnenweise Psychedelic-Prog-Songs
aufnahm. Zwei aufwändig gestaltete Tapes schlugen im britischen
Underground hohe Wellen und wurden '91 auf dem ersten regulären
Longplayer "On The Sunday Of Life..." zusammengefasst. Den
Schritt zum Profimusiker-Dasein ermöglichte Wilson allerdings nicht
sein Soloprojekt PORCUPINE TREE, sondern seine damalige Hauptband No-Man,
deren Artrock-Alben Anfang der Neunziger recht respektabel verkauften.
PORCUPINE TREE hingegen blieben in England lange ein Insider-Act, dessen
Erfolgskurve trotz fantastischer Presse-Resonanzen und der halbstündigen
Independent-Hitsingle 'Voyage 34' nur unmerklich nach oben zeigte. Den
entscheidenden Wendepunkt markierte Wilsons Entscheidung, aus dem Ein-Mann-Unternehmen
eine vollwertige Band zu machen. Mit Colin Edwin (b.), Richard Barbieri
(keys) und Chris Maitland (dr.) scharte er drei britische Top-Musiker
um sich, nahm '96 den Trance-Rock-Meilenstein "Signify" auf
und tourte ausgiebig durch Europa. In Ländern wie Italien, Holland
oder Griechenland spielten PORCUPINE TREE von Jahr zu Jahr in größeren
Hallen und schafften es '97, bei drei Gigs in Rom, die für das
Live-Album "Coma Divine" mitgeschnitten wurden, 5.000 Fans
in Ekstase zu versetzen.
PORCUPINE TREE waren dem Underground endgültig entwachsen und wechselten
'98 vom Indie-Label Delerium zur UK-Semi-Größe Snapper. Mit
den songorientierteren Scheiben "Stupid Dream" und "Lightbulb
Sun" mauserten sie sich zum weltweiten Prog-Geheimtipp Nummer eins
und wurden schließlich vom Major-Riesen Lava/Atlantic aufgegabelt,
der mit dem neuen Sahnealbum "In Absentia" (Soundcheck-Zweiter
im letzten Heft) insbesondere in den USA in Edelmetall-Dimensionen vorstoßen
will. Vom idealistischen Underground-Act, der kompromisslos sein Ding
durchzog und fast ausschließlich durch Mund-zu-Mund-Propaganda
250.000 Tonträger absetzte, zum Major-Hype - ist da der tiefe Fall
nicht vorprogrammiert?
»Hoffentlich nicht«, lacht Steven, der sich an
einem verschneiten Wintermorgen in einem karg möblierten Kölner
Hotelzimmer den Fragen des Rock Hard-Abgesandten stellt. Der kleine,
schmächtige Brite, der früher als Computerexperte für
den Flugzeugbauer McDonnell Douglas arbeitete, hat optisch verblüffende
Ähnlichkeit mit dem jungen Geddy Lee und scheint sich heutzutage
in Interview-Situationen deutlich wohler zu fühlen als noch vor
einigen Jahren. »Wir haben auch weiterhin die hundertprozentige
Kontrolle über unsere Musik. Songwriting, Studio, Mixer, Engineer,
Artwork - Atlantic haben uns in nichts reingeredet. Neu hinzugekommen
ist lediglich die riesige Marketing-Maschinerie, die uns endlich auch
dem Mainstream-Publikum näher bringen wird.«
Wie seid ihr überhaupt an den Deal gekommen? Als Progrock-Band
wird einem ja nicht alle Tage ein Major-Vertrag angeboten.
»Letzten Sommer spielten wir eine kurze US-Tour, und bei unserer
ausverkauften Show in New York standen plötzlich zehn Labelvertreter
im Publikum, die uns anschließend fast alle signen wollten. Ich
glaube, dass in der Musiklandschaft in den letzten Jahren eine leichte
Prioritäten-Verschiebung stattgefunden hat. Nu Metal langweilt
die Leute, sie haben wieder Appetit auf anspruchsvollen Rock. Radiohead
und Tool schafften es ohne Singles auf Platz eins der Billboard-Charts,
und viele Plattenfirmen sehen in uns eine Band, die von diesen Erfolgen
profitieren könnte. Wer über Indie-Labels eine Viertelmillion
Scheiben absetzt, hat sicherlich noch Steigerungspotenzial. Ein wenig
seltsam finde ich den plötzlichen Rummel um uns allerdings schon.
Aber vielleicht waren wir der Zeit bislang einfach nur zu weit voraus
- oder hinkten ihr zu weit hinterher (lacht). Bands wie Tool, Coldplay,
Radiohead, Sigur Ros oder die Flaming Lips haben uns den Weg geebnet.
Jetzt müssen wir beweisen, dass wir die nötige songschreiberische
Klasse für den großen Durchbruch haben. Eingängig genug
klingt "In Absentia" auf jeden Fall.«
Aber nicht so eingängig wie die beiden Vorgänger-Alben. Neben
überraschend harten Ohrwürmern finden sich auf der CD auch
zahlreiche psychedelische und rein instrumentale Tracks, die eher an
eure Mittneunziger-Scheiben erinnern. Wie kommt euer Label mit der unerwartet
progressiven Ausrichtung von "In Absentia" und der Serienmörder-Thematik
einiger Songtexte klar?
»Damit hat niemand ein Problem. Wichtig sind vor allem die
zwei, drei harten Rocksongs, die momentan im US-College-Radio ziemlich
gut laufen. Wir sind und waren nie eine Hauruck-Band. Auch in den USA,
wo wir bislang noch kaum präsent waren, werden wir langsam und
organisch wachsen, so wie wir es immer getan haben.«
War die avantgardistischere und härtere Ausrichtung der neuen Platte
von Anfang an geplant?
»Nein. Ich merkte allerdings schnell, dass ich keinen Bock
auf eine weitere relaxte Scheibe hatte und lieber ordentlich Dampf machenden
In-die-Fresse-Rock spielen wollte. Verglichen mit richtig harten CDs
ist "In Absentia" natürlich immer noch relativ soft,
für unsere Verhältnisse klingt die Platte aber verdammt heavy.
Dass ich die letzten drei Opeth-CDs ("Blackwater Park", "Deliverance"
und "Damnation" - d.Verf.) produziert habe, ist nicht ohne
Folgen für PORCUPINE TREE geblieben. Ich fand großen Gefallen
daran, mit harten Riffs zu arbeiten, und es hat mich ziemlich beeindruckt,
wie Opeth düstere und brachiale Elemente mit intelligenten Arrangements
kombinieren. Ein französischer Journalist hatte mir eine ihrer
CDs gegeben, und als ich Mikael (Akerfeldt, Opeth-Mastermind - d.Verf.)
eine Mail schickte, um ihm zu sagen, wie grandios ich die Scheibe fand,
meldete er sich sofort zurück. Er hatte schon seit einiger Zeit
versucht, mich zu erreichen, weil er vom PORCUPINE TREE-Sound sehr angetan
war und wollte, dass ich "Blackwater Park" produziere. Mikael
ist genau wie ich ein völlig wahnsinniger Workaholic und Perfektionist,
von daher kamen wir von Anfang an wunderbar miteinander klar (lacht).
Ich habe eine halbe Ewigkeit vergeblich nach wirklich progressiven neuen
Musikern gesucht, bis ich sie im Metal-Underground bei Gruppen wie Opeth
oder Meshuggah fand. Lange Jahre wollte ich nicht, dass wir als progressive
Band bezeichnet werden, weil ich mich mit Neo-Progrock-Bands wie Spock´s
Beard nicht identifizieren und auch keine Ähnlichkeiten mit ihnen
feststellen konnte. Mittlerweile wird der Begriff „progressiv“
aber wieder weiter gefasst, und damit kann ich mich arrangieren. Selbst
die US-Presse hat das Wort in fast jeder Rezension von "In Absentia"
verwendet, und zwar nie mit negativem Unterton. Früher war es ein
Schimpfwort für nostalgische Retro-Gruppen, die wie Genesis anno
'72 klingen wollten. Heute ist es wieder ein Synonym für originelle
Bands. 25 Jahre, nachdem der Punk-Boom die erste Albumrock-Welle beendete,
ist intelligente Musik wieder gefragt. Der Kreis schließt sich.«
Vor kurzem seid ihr mit Yes, der Retro-Prog-Band schlechthin, auf US-Tour
gegangen.
»Stimmt«, grinst Steven. »Meine erste
Wahl waren sie nicht, aber die acht Support-Gigs haben trotzdem Spaß
gemacht. Nach Deutschland werden wir im April aber als Headliner kommen.«
...und einen neuen Drummer sowie einen zweiten Gitarristen mitbringen.
»Chris stieg nach der Vertragsunterzeichnung mit Atlantic
aus, weil er nebenbei noch als Schlagzeuglehrer arbeitet und seine diversen
Projekte nicht runterschrauben wollte. Da standen wir plötzlich
zwei Wochen vor Produktionsbeginn der CD und mussten einen phänomenalen
Drummer ersetzen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, doch wir
hatten Glück, dass Gavin Harrison kurzfristig einsprang und sich
sogar als permanenter Ersatz anbot. Unser Keyboarder Richard kennt ihn
schon ziemlich lange. Gavin hat bereits mit so unterschiedlichen Künstlern
wie Lisa Stansfield und Iggy Pop zusammengearbeitet und gilt als einer
der besten Session-Drummer Englands. Unser Glück, dass er jetzt
endlich Bock hat, fulltime in einer Band zu spielen. Im Gegensatz zu
Chris singt er jedoch keine Backing-Vocals, und da wir wegen der härteren
Ausrichtung der neuen Songs eh einen weiteren Gitarristen haben wollten,
holten wir John Wesley ins Boot, der beide Jobs exzellent erledigt.
John gehört allerdings nicht fest zum Line-up, sondern wird uns
lediglich auf Tour begleiten.«
Wie wichtig sind deine Mitmusiker für dich? Immerhin bist du nach
wie vor für die Produktion und fast das komplette Songwriting zuständig.
»Ohne die anderen wären PORCUPINE TREE nur die Hälfte
wert. Als aus meiner Solokiste eine vollwertige Band wurde, veränderte
sich unser Sound nachhaltig. Ich wollte danach nie wieder zurück
zum Projektcharakter. „...Sideways“ war mein letzter Alleingang,
und der Scheibe fehlt es an Charisma. Colin hört viel Weltmusik,
Gavin technischen Metal. Diese Einflüsse machen unsere Songs extrem
vielschichtig und einzigartig.«
Ist es immer noch so, dass du deine alten Scheiben scheust wie der Teufel
das Weihwasser?
»Kann man so sagen, hahaha! Einige von ihnen werden momentan
von mir remastert und im Laufe des Jahres mit Bonustracks wiederveröffentlicht,
aber privat lege ich sie nie auf, denn bei jedem Durchlauf würde
ich Tausende von Details entdecken, die ich heute anders machen würde.
Meine alten CDs hören zu müssen, ist für mich die reinste
Folter. "Signify" ist die einzige, mit der ich immer noch
zufrieden bin. Rückblickend muss ich zugeben, dass ich viel zu
viele Platten aufgenommen habe und auf einige davon alles andere als
stolz bin.«
Aber dennoch bindest du dir auch weiterhin diverse Nebenprojekte ans
Bein.
»Ich bin halt unbelehrbar (lacht). In diesem Jahr wird es
noch eine neue No-Man-CD geben, und außerdem plane ich eine extrem
harte Metal-Platte. Bei den "In Absentia"-Songwriting-Sessions
fielen zahlreiche Tracks ab, die ich sehr gut finde, die aber viel zu
hart für PORCUPINE TREE sind. Ich hoffe, dass ich sie in naher
Zukunft zusammen mit Mikael von Opeth aufnehmen kann.«
Bekommst du viele Anfragen von Bands, die ihre nächste Platte von
dir produzieren lassen möchten?
»Auf meine Arbeiten für Fish und Marillion gab es kaum
Reaktionen, aber nach den Opeth-CDs wurde ich mit Hunderten von Angeboten
überhäuft. Immer noch fragen fast jede Woche Metal-Bands an,
darunter auch sehr gute wie Nevermore oder Soilwork. Momentan fehlt
mir aber leider die Zeit für so was.«
Die letzte Soilwork-CD hat nach deiner Absage Devin Townsend produziert.
Mit dem Typen (noch ein vollkommen musikbesessener Perfektionist) müsstest
du dich eigentlich ziemlich gut verstehen.
»Ich habe ihn einmal bei einer Opeth-Show in London getroffen.
Als Producer ist er mindestens so gut wie ich, wenn nicht sogar besser.«
Ein gemeinsames Projekt von euch beiden würde mit Sicherheit vielen
Musikliebhabern den Sabber aus den Mundwinkeln tropfen lassen.
»Hmm, gute Idee. Vielleicht sollte ich wirklich mal was mit
ihm machen...«